captured in-between
Kunstverein Friedrichshafen e.V
Ausstellungsprojekt: captured in-between
mit Ira Konyukhova, Marc Lee und Lena Policzka
Kuratorin: Hannah Eckstein
Homepage: www.kunstverein-friedrichshafen.de →
Konzept
Die Ausstellung captured in-between präsentierte mit Ira Konyukhova, Marc Lee und Lena Policzka drei künstlerische Positionen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem schmalen Grat auseinandersetzen, der zwischen den Utopien und Dystopien unserer gegenwärtigen Lebenswelt herrscht.
Utopien wie auch Dystopien sind zutiefst menschliche Konzepte. Die erste Utopie lässt sich bis in die Antike hin zu Platons „Politeia“ zurückverfolgen, in dem die Idee einer Idealgesellschaft nachweislich das erste Mal in der Menschheitsgeschichte schriftlich niedergelegt wurde. Der Begriff „Utopie“ wurde 1516 von dem englischen Staatsmann und Humanisten Thomas Morus in seinem Roman Vom besten Zustand des Staates und der Insel Utopia geprägt. Der Titel lässt bereits vermuten, dass auch dieses Werk eine ideale Gesellschaft in einem idealen Staat zum Thema hat. Beide Schriften sind folglich aus einem humanistischen Denken entstanden, welches das menschliche Dasein ins Zentrum stellt und an eine bessere Existenzform der Menschheit glaubt. Das Gegenstück zur Utopie, die Dystopie, entstand erst mit dem Zeitalter der Industrialisierung, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts der für lange Zeit anhaltende Fortschrittsglauben – insbesondere befeuert durch die sich rasant weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten – erschüttert wurde. Die naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften bedeuteten tiefe Einschnitte in die Realität der Menschen und veränderten ihre Wahrnehmung gravierend. Utopische Ideen wurden plötzlich zur Realität, wodurch die Vorstellung von dem, was menschenmöglich ist, zutiefst erschüttert wurde. Die Menschen wurden von ihrer eigenen Realität eingeholt und Angriffsflächen entstanden, negative Zukunftsvisionen einer technisierten Gesellschaft zu entwerfen, in der die Menschheit, ihrer Freiheit und Würde beraubt, von Maschinen beherrscht in totalitären Systemen lebt.
Auch das 21. Jahrhundert ist ein Zeitalter tiefgreifender Veränderungen, in Gang gesetzt durch die Globalisierung und den alle Lebensbereiche durchdringenden Kapitalismus. Zudem hat die digitale Revolution zu ebenso tiefen Einschnitten geführt, wie in der Vergangenheit die industrielle. In Zeiten, in denen die Welt Kopf zu stehen scheint und wirtschaftliche Interessen das Maß aller Dinge sind, bedeutet der Siegeszug digitaler Technologien Chancen und Unsicherheiten zugleich. Algorithmen und Datenströme beeinflussen mehr und mehr unsere Identität und mit ihr unsere Wünsche und Ängste. Die Verbindung von Mensch und Maschine, die durch die allgegenwärtigen Technologien bereits ihren Anfang genommen hat, ist für die einen erstrebenswerte Utopie, in der der menschliche Drang nach Selbstoptimierung seinen Höhepunkt erreicht, für die anderen jedoch die schlimmste vorstellbare Dystopie, in der unsere individuelle Freiheit immer mehr beschnitten, und unsere physische Existenz zunehmend in Frage gestellt wird. Die Folie, auf der sich unsere Realität entfaltet, wird somit kontinuierlich durch wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Innovationen erweitert und verändert. Science Fiction wird allmählich zur Realität und die Frage immer drängender, wie wir in Zukunft als Individuen und Gesellschaft leben wollen, denn das utopische Versprechen unserer Wohlstandsgesellschaft verwandelt sich zusehends in ein dystopisches Szenario.
Impressionen Umsetzung
Ira Konyukhova (*1984, Udomlja, Russland)
Ausgangspunkt von Ira Konyukhovas raumgreifender, multimedialen Installation ist die Stimme als elementares Identitätsstiftendes Medium, mit der wir hörbar werden, uns ausdrücken und mithilfe derer wir erst zu dem werden, was uns als Person ausmacht. Zentrum der Installation ist die Amazon Alexa, die lautstark über ihre weibliche Identität als digitale Dienerin nachsinnt, deren herausragendes Merkmal es ist die Befehle auszuführen, die der User ihr gibt. In ihrem ironisch-sarkastischen Monolog zählt Alexa einige ihrer Fähigkeiten auf: Das Wetter ansagen, die Spotify Playlist abspielen, Amazon Einkäufe tätigen, aber eben auch persönliche Daten sammeln, um so die Handlungen ihres Besitzer zu beeinflussen und ihm seine Handlungsfreiheit schlussendlich vollends zu entziehen. Anhand des Monologs zeigt sich also wie Internetgiganten wie Amazon sich unsere Gewohnheiten zu Nutzen machen, um den eigenen Profit zu steigern. Es offenbart sich aber zudem noch ein ganz anderer Aspekt, denn es stellt sich unweigerlich die Frage, warum Alexa eigentlich weiblich ist. Werden hier Stereotypen forciert, die Ausdruck jahrhunderterlanger Unterdrückungs- und Machtstrukturen sind und die wir im 21. Jahrhundert eigentlich schon längst hätten überwinden müssen? Und wäre es total abwegig, dass man einem digitalen Diener namens Alex Befehle gibt?
Die Videoarbeit „Untitled“ (2020) zeigt eine 3D animierte weibliche Person. Ihre blasse ausgemergelte Haut sieht erschreckend echt aus, sodass man meinen könnte, es handele sich um eine reale Person. Im schnellen, hektischen Bildwechsel werden Nase, Mund und Gesicht eingeblendet. Ebenso hektisch wie der Bildwechsel ertönt ein gehetztes, fast schon panisches Atemgeräusch. Im ganzen Raum sind zudem Gesichter und Hände aus Keramik verteilt. Mal sind technische Abspielgeräte in den Händen abgelegt, mal treten aus den Augen der Gesichter Kabel aus, die sich über den Boden schlängeln. Mensch und Technologie gehen somit wie im realen Leben eine untrennbare, unsere Identität gestaltende Verbindung ein.
Marc Lee (*1969, Schweiz)
Im Ausstellungsraum konnte der Besucher über den Display des bereitliegenden Smartphones frei zwischen drei der interaktiven Augmented Reality Arbeiten von Marc Lee wählen. Friends (2019), Me, Myself and I (2018) und Time to Nist Time to Migrate (2020) wählen.
In Friends (2019) befindet man sich als Betrachter in einer virtuellen Welt, in der einem von allen Seiten Gesichter entgegenfliegen. Betrachtung wird zur Interaktion und so kann man sich durch die eigenen Bewegungen und durch die Navigation über das Smartphone-Display frei in der virtuellen Welt bewegen und die Blickrichtung ändern. Treten die Gesichter zunächst nur vereinzelt auf, so wird der Interagierende nach einigen Minuten von allen Seiten angestarrt, sodass man sich regelrecht bedrängt bzw. verfolgt fühlt. Diese weiblichen und männlichen Porträts erscheinen zwar real, sind aber von einer künstlichen Intelligenz generiert. Einzig und allein die Tatsache, dass sie mit Buchstaben-Codes anstatt mit Namen benannt sind, weist darauf hin, dass es sich nicht um reale Personen handelt. Somit zeigt sich, wie schwindend klein die Grenze zwischen Realität und Virtualität bereits geworden ist.
Die Arbeit Me, Myself and I (2018) thematisiert hingegen die Selfie-Kultur als beispielhaftes Phänomen für unsere vom Narzissmus und Egozentrismus geprägte Gesellschaft, in der sich unsere Identität zusehends über die in Sozialen Medien geteilten Inhalte konstituiert. Als „User“ dieser Arbeit wird man zum Spielenden, denn Ziel ist es, die Oberflächen der roten Türme, die sich immerzu um einen herum aufbauen, mit dem eigenen Selfie zu füllen. Alle zwei Sekunden macht die App automatisch ein neues Selfie, das jedoch wohlbemerkt nicht gespeichert wird. Am Bildrand erscheint die Prozentzahl, die angibt, wie viel Prozent der roten Oberflächen bereits von dem eigenen Selfie geschmückt werden. Sind die 100 Prozent erreicht, gelangt der „Spieler“ in das nächste Level.
Mithilfe von Time to Nist Time to Migrate (2020) erhält der Besucher die Gelegenheit eine Reise in sein Körperinneres zu unternehmen, wo er auf Zellen, Bakterien, Viren, Blutkörperchen und weitere körpereigene Organismen trifft. Über die zwei Kreise, die auf dem Display erscheinen, kann man sich fortbewegen und die Organismen manipulieren. Zudem findet auf pseudo-poetische Weise eine Kommunikation mit dem Betrachter statt. Sätze wie „transfer between microbiom and bacteria will be the next big thing, baby“ oder „It will not be decided by us“, die sich immerzu unter die Organismen mischen, lassen erahnen, was mit Hilfe der Biotechnologie noch alles möglich wird und wie wenig Einfluss die meisten von uns auf diese Entwicklungen haben werden.
Lena Policzka (*1987 Penzberg)
Die fortlaufende Werkreihe Rush von Lena Policzkas beschäftigt sich mit der Frage, ob die Menschheit die Natur als maßgebliche, die Umwelt gestaltende Kraft abgelöst, und somit die seit jeher geltenden Gesetze der Evolution ausgehebelt hat.
Für die Ausstellung captured in-between (2020) hat sie eine raumgreifende Installation bestehend aus der Videoarbeit Rush: Trojan Horse (2020) und der Skulptur Rush: Deposition of Utopia entwickelt. Das Video zeigt eine geometrische Aluminiumskulptur, deren Streben mit synthetischen, rosafarbenen Zuckerkristallen überzogen sind. Die Zuckerskulptur steht auf einem archetypischen Ameisenhügel. Im Verlauf des Videos entdecken die Ameisen die Zuckerkristalle als neuartige Nahrungsquelle und machen sich emsig über sie her. Die Videoarbeit wird von einer Steele ergänzt: Einem Bohrkern, der den Längsschnitt durch den Ameisenhügel von oben bis tief in das Erdreich zeigt. Auf ihm thront die abgefressene Aluminiumskulptur. Die Gänge des Ameisenhügels sind bereits mit der rosafarbenen Masse verstopft, welche die Ameisen mit der Zeit in ihren Bau abtransportiert oder ausgeschieden haben.
Die Zuckerskulptur und ihre glitzernden Kristalle sind als Metapher für den grenzenlosen Konsum unserer Wohlstandsgesellschaft sowie für den urmenschlichen Drang nach Selbstoptimierung zu deuten. Obwohl die Menschheit sich über die Risiken bewusst ist, die unsere Lebensweise nach sich zieht, wird die Natur weiterhin zerstört und ihre Ressourcen ausgebeutet. In Analogie zu dem Ameisenstaat und der zunächst vielversprechenden – im Nachhinein jedoch verhängnisvollen – Nahrungsquelle, ist die Installation Sinnbild unserer kapitalistische Gesellschaft, der ein unumgängliches Verhängnis anhaftet.